Warum wurden Warnsignale nicht wahrgenommen?

Die Menschen in Eichwalde trauern um den gewaltsamen Tod der 14-jährigen Alyssa B. Sie fragen sich, warum die Schülerin sterben musste, warum das nicht verhindert werden konnte. Was hat den 20-jährigen mutmaßlichen Täter dazu getrieben, das Verbrechen zu begehen? Gab es womöglich Warnsignale, die nicht wahrgenommen wurden? Die Eichwalder Nachrichten sprachen mit dem Psychologen Prof. Dr. Denis Köhler, Hochschullehrer an der Fachhochschule Düsseldorf. Er ist psychologischer Sachverständiger für Amtsgerichte, Landgerichte und Jugendkammern und erstellt rechtspsychologische Gutachten bei Jugendlichen, Heranwachsenden und Erwachsenen zur Frage der Straf- und Entwicklungsreife.

Haben Sie bereits Täterprofile im Zusammenhang mit ähnliche Verbrechen erstellt?

„Täterprofile erstellt man nur im Fernsehen. Wir beschäftigen uns unter anderem mit den Tätern im Strafvollzug, um ihre Gefährlichkeit einzuschätzen.“

Unter der Annahme, dass die Berichterstattung in Medien den Tatsachen entspricht, was lässt sich über die Motive des mutmaßlichen Täters sagen?

„Bei den meisten Tötungsdelikten sind es Beziehungskonflikte, die dazu führten. Für den mutmaßlichen Täter scheint das Opfer möglicherweise eine idealisierte Figur zu sein. Der Täter würde dann eine Beziehung hinein interpretieren.“

Das Opfer hatte die Beziehung, die womöglich gar keine war, beendet, worauf es zur Auseinandersetzung mit katastrophalem Ausgang kam.

„Ja, er fühlte sich eventuell durch die Zurückweisung gekränkt. Das wäre eine typische Konstellation bei Tötungsdelikten. Wenn große Liebe enttäuscht wird, kann es dazu führen, dass es zu Aggressionen kommt.“

Das ist aber doch kaum nachzuvollziehen. Wird denn nicht so ziemlich jeder Mensch im Laufe seines Lebens häufiger enttäuscht?

„Die meisten Menschen haben aber andere Möglichkeiten und Kompetenzen, mit Enttäuschungen umzugehen. Der mutmaßliche Täter hatte offensichtlich nicht diese sozialen Fähigkeiten.“

 

Was sagt es für Sie aus, dass sich Täter und Opfer im Internet kennen lernten?

„Er war vermutlich nicht in der Lage, seine sozialen Kompetenzen auszubilden, um eine Beziehung aufzubauen. Der Täter nutzte deshalb ein soziales Netzwerk im Internet.“

Hat der mutmaßliche Täter womöglich kein Mitgefühl? Schließlich hatte er ja eine Liebesbeziehung zum Opfer gesucht.

„Solche Leute sind oftmals weder sozial-emotional noch gedanklich flexibel. Sie können nicht einfach eine andere Person kennen lernen. Da muss nicht immer grundsätzlich ein Mangel an Mitgefühl vorliegen. Bei großer emotionaler Anspannung kann das auch in extreme Aggression umschlagen. Wenn der emotionale Druck so groß ist, haben solche Menschen kaum noch Möglichkeiten, sich unter Kontrolle zu halten.“

Senden solche Menschen keine Signale an ihr soziales Umfeld, an Freunde, Eltern oder Lehrer aus? Warum konnte die Tat nicht im Vorfeld verhindert werden?

„Leider gibt es Menschen, die belastende Faktoren im Leben quasi sammeln, die dazu führen können, dass diese Aggressionen entstehen. Man muss sich so ein Delikt wie ein Puzzle aus vielen Teilen vorstellen. Diese Teile werden aber nur punktuell von Mitmenschen wahrgenommen und nicht fachlich interpretiert. Hinzu kommt oft eine gewisse soziale Ausgrenzung und dass sie keine Freunde haben.“

Aber warum führte das zu dieser Katastrophe?

„Wenn er die eigene Fantasie nutzt, um seine Existenz zu begründen und diese weg bricht, bricht für ihn eine Welt zusammen.“

Gibt es deutliche Alarmsignale bei Menschen mit solchen Defiziten, die zur Gefahr für ihre Mitmenschen werden können?

„Es gibt natürlich Risikofaktoren, die man sehen kann. Wir als Außenstehende rekonstruieren aber das Geschehene von hinten nach vorne. Das Schwierige aber ist, Vorherzusagen zu treffen, wenn zum Beispiel Todesdrohungen ausgesprochen werden, ob diese auch tatsächlich ernst gemeint sind. Die einzelnen Warnsignale verschwinden oft in den sozialen Netzwerken. Für die Familie und Freunde ist immer nur ein kleiner Teil sichtbar. Die Auffälligkeit muss dem sozialen Umfeld gar nicht als solche erscheinen. Im Grunde genommen ist für Freunde oder Angehörige oftmals nicht möglich, zu sagen, dass dieser Mensch auffällig ist. Das Schlimme ist, wir sehen immer nur im Nachhinein, was auffällig war. Denn im Zweifel bedeutet es auch, wenn jemand eine Todesdrohung macht, heißt das nicht zwangsläufig, dass diese auch in die Tat umgesetzt wird.“

Was können Sie daraus schließen, dass sich ein 20-Jähriger zu deutlich jüngeren Mädchen oder Frauen hingezogen fühlt? Was ist sein Antrieb?

„Das könnte ein Gefühl der Macht sein oder Macht ausüben zu wollen, aber auch soziale Inkompetenz. Womöglich fühlen sich solche jungen Männer älteren Mädchen gegenüber gehemmt. Das wäre aber hier im konkreten Fall sehr spekulativ.“

Viele Menschen können bei solchen Gewaltverbrechen nicht akzeptieren, dass die Täter womöglich für strafunmündig erklärt werden, weil sie als psychisch krank gelten.

„Das Leben im Maßregelvollzug ist ganz sicher kein Zuckerschlecken und bestimmt kein ,Wellness-Programm‘ für die Täter. Die Forensische Klinik ist nicht vergleichbar mit einem normalen Krankenhaus. Die Täter müssen sich im Rahmen der Behandlung intensiv mit ihrem Leben, ihrer psychischen Störung und den begangenen Straftaten auseinandersetzen. Raus kommen schuldunfähige Straftäter nur dann, wenn sie psychisch gesund sind und eine positive Risikoeinschätzung von externen Gutachtern bekommen. Daher kann so eine forensische Behandlung deutlich länger als eine Haftstrafe dauern.“

Das Gespräch führte Jörg Levermann.